Wir sind überall, nur nicht bei uns. Leben im Zeitalter des Selbstverlusts-

Spüre ich mich noch? Habe ich mein Selbst verloren? Das Buch befasst sich mit den Fragen nach unserem Selbsterleben und Selbstgestalten.

Milzner G

Wir sind überall, nur nicht bei  uns. Leben im Zeitalter des Selbstverlusts.

Weinheim Basel: Beltz

  (2017):

 

 

 

 

 

Zum Inhalt

 

Der Psychologe und Psychotherapeut Milzner  wählt für sein Sachbuch keinen wissenschaftlich-abgehobenen Schreibstil, aber auch nicht einen  sensationsorientierten Journalismus.  Er schreibt spannend;  nicht aufgeregt, sondern ruhig -  im Vertrauen auf die Überzeugungskraft  seiner  Beobachtungen und Argumente. Diese zentrieren sich um das Phänomen des Selbstverlustes, denn der Autor ist überzeugt, dass es sich beim Selbstverlust nicht nur um einen neu eingeführten Begriff handelt. Der Autor zählt viele griffig formulierte Symptome und Störungen auf, z.B. den Verlust der Tiefendimension, die Aushebelung des Instinkts; nach außen vernetzt, nach innen einsam; mit sich selbst in Kontakt sein; die verlorene Kunst, in sich selbst zu ruhen; von Informationsterror und durchwachten Nächten;  die Alarmanlage geht nicht mehr aus; das zugeschüttete Hirn; Infiltration statt Information;  usw.
Milzner bekämpft  liebgewordene  Vorstellungen wie z.B. die Bewunderung von Multitasking- Fähigkeiten.  Er fragt provokant:“ Wollen wir von Maschinen lernen?“  Diese Aufmerksamkeitsspaltung geht einher mit Einbußen in der Konzentration und im sozialen Verhalten. Und sie tendiert zur wachsenden Entkoppelung von Intelligenz und Bewusstsein. Der Autor äußert seine Skepsis gegenüber der Vernetzungseuphorie; er unterscheidet ein äußeres und inneres Netzwerk und kritisiert die Überbetonung des ersteren.  Milzner  führt auch die wichtige Frage an:“ Wie viele Freunde können wir ertragen?“  Denn  unser Gehirn (speziell  das Frontalhirn) kann nur über 150 Kontakte einen Überblick bewahren, wie Untersuchungen des Hirnforschers Pöppel belegen.

Auf Seite 84 ff bringt der Autor eine Definition von Ego, Ich und Selbst, so wird das Ego mit Eigenschaften bedacht wie dem Wunsch zu glänzen, aufzufallen, es geht hauptsächlich um das Begehren.  Beim Ich-Begriff sieht Melzner  vorwiegend die klare Vermittlung zwischen Innen und Außen. Zu ergänzen wäre  die Aufgabe des Ich im Bereich der  Realitätsbewältigung,  die  Fähigkeiten zu realistischen Erwartungen  und Wahrnehmungen. Was die Vermittlung zwischen Begehren und gesellschaftlichen Konventionen betrifft, wäre eine Erwähnung des Über-Ichs nicht überflüssig .
Das Selbst wird als das Wesen des Individuums in seiner  Ganzheit verstanden. Dies zu erfassen bedarf der  Selbstaufmerksamkeit.

Interessant  ist die Formulierung des „Künstlichen Selbst“. Dieses kommt durch falsche Urteile, mangelhafte Rückmeldungen zu sich selbst etc. zustande und stellt nach dem Autor die Krankheit unserer Zeit dar. Hier wäre anzumerken, dass  der Vergleich mit dem Begriff des „falschen Selbst“ (Winnicott) fruchtbar wäre. Auf Seite  114 ff führt der Autor vier Bedürfnislagen an, die die jeweilige Entwicklung eines  künstlichen Ichs beeinflussen: Glanz und Glamour;  Halt und Ordnung; Zugehörigkeit und Gemeinschaft;  Könnerschaft und Perfektion.  Diese vier Bedürfnislagen haben Berührungszonen mit den vier Grundarten der Neurosen;  der Autor bezieht sich dabei aber mehr auf  Narzissmus (ein Star sein, umgesehen zu werden), Fundamentalismus (Starre statt Stärke, Selbstauslöschung statt Selbstfindung), Schwarmverhalten (das künstliche Selbst in der Masse), und Funktionalismus ( ich leiste, also bin ich). Jede dieser Bedürfnislagen kann ein künstliches Selbst fördern.

 

In der Folge räumt der Autor mit bestimmten Vorstellungen auf: Achtsamkeit kann eine kalte mentale Praxis sein, die eher distanziert statt Mitgefühl  zu erwecken.

Selbststeuerung ist wichtig, kann aber fehlgehen, wenn die Ziele zu rationalistisch und gefühlsleer sind.

ADHS- Patienten könnten auch als Gegenpol zum Funktionalismus betrachtet werden. Sie sind Improvisationstalente, die ihren Eigen-Sinn verteidigen.

Einer Einladung zum Sich-selbst-Kennenlernen folgen 10 Wege zu einem neuen Selbst, z.B. ein Symbol für sein Selbst finden; sich selbst im Spiel erleben; Könnerschaft statt Leistung.

Milzner ist ein überaus anregendes, facettenreiches Buch gelungen. Ihm gelingt es, die nicht ganz leichte Rückkehr zu uns selbst plausibel und erreichbar zu formulieren. Sein Konzept des Selbstverlustes wird die Psychotherapie, aber auch andere Formen helfender Begegnung und Selbstbegegnung bereichern!   Lesenswert!

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
02.10.2017
Link
https://pup.schule.at/portale/psychologie-und-philosophie/news/detail/wir-sind-ueberall-nur-nicht-bei-uns-leben-im-zeitalter-des-selbstverlusts.html
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