Die Dummheit wechselt nur den Wirt

Roland Luft, Leiter der ARGE Philosophie OÖ, im Gespräch
(Juli 2013)

logo: Sehr geehrter Herr Professor, Sie sind jetzt über zehn Jahre ARGE-Leiter und als solcher mit Fragen bezüglich der Matura bestens vertraut. Hat sich etwas geändert in dieser Zeit?

Luft: Natürlich hat sich etwas geändert! Immer ändert sich was. Die Aufregungen der frühen Jahre haben sich gelegt. Der Fokus hat sich verschoben.

logo: Da war doch immer dieses Ärgernis mit den Spezialgebieten. Wie sieht die Lage im Jahr 2013 aus?

Luft: Die Frage ist gut, weil beinahe schon irrelevant, kurz vor dem Auslaufen der bestehenden Regelung. Aber wir Philosophen – ich möchte hier erwähnen, dass Philosophinnen mit dem Ausdruck „Philosophen“ nicht mitgemeint sind, sondern explizit angeführt werden sollen – und Philosophinnen hatten immer schon ein Faible für das Unnütze, das Überflüssige.  Eben auch für die explizite gendergerechte Verwendung von Sprache.

logo: … und das Ärgernis mit den Spezialgebieten.

Luft: Entschuldigung, ja. Da legt logo einen Finger in eine offene Wunde: Bis heute hat sich kaum herumgesprochen, dass ein Spezialgebiet keine Textsorte ist. Der Gesetzgeber hat nie daran gedacht, dass ein Text abgegeben werden muss, erst recht nicht, dass er in irgendeiner Weise formatiert sein muss.
Trotzdem: Prüfer zeigen voller Stolz die Elaborate der Prüflinge her, Vorsitzende loben deren Qualität. Hiebei muss es sich um kollektiven Irrtum handeln, der der Selbstbeweihräucherung aller Beteiligten dient: Die Prüferinnen und Prüfer freuen sich, dass sie die KandidatInnen zu einer illegalen, aber schönen Arbeit gezwungen haben (Angaben über Schriftgröße und Zeilenabstand und Gestaltung des Titelblatts inklusive), die MaturantInnen freuen sich über die schöne Form und die Vorsitzenden freuen sich, dass sie die Qualität von Farbdrucken erkannt haben. Wenn Kolleginnen die schriftliche Ausarbeitung eines Spezialgebiets bis Anfang Jänner (JÄNNER!) fordern, also mehr als ein Monat vor der Entscheidung von KandidatInnen für ein Spezialgebiet, dann ist das eine bodenlose Frechheit. Diese Frechheit hat System, sie hängt mit der vermeintlichen Wertigkeit eines Faches wie Englisch gegenüber einem Fach wie Philosophie zusammen. Ich habe schon erlebt, dass KandidatInnen keine Zeit für die FBA aufbringen konnten, weil über die Weihnachtsferien dringend das Spezialgebiet aus Englisch geschrieben werden musste.

logo: Würden Sie sagen, dass sich in all den Jahren der „neuen“ Matura und des „neuen“ Lehrplans nichts gebessert hat, dass die Fehler des Anfangs bis zum Ende wiederholt wurden?

Luft: Einige Fehler haben sich einfach durch den Fortgang der Zeit gelöst, sie sind nun in Pension, etwa der Mann, der sich wunderte, dass es MaturantInnen in Philosophie gibt, die nicht aus Leidenschaft, sondern aus pragmatischem Kalkül in diesem Fach antreten. Der Mann, der nicht glauben wollte, dass man in Philosophie etwas lernen und auch durchfallen kann, liegt auch schon seit Jahren im Solarium.

logo: Das klingt ja beinahe schon wie ein versöhnliches Ende.

Luft (lacht): Beinahe, ja. Naturgemäß – hätte Thomas Bernhard seinen Interviewpartner sagen lassen – gibt es kein versöhnliches Ende. Die Dummheit stirbt nicht aus, sie wechselt nur den Wirt. Heute wie damals überschätzen manche Vorsitzende ihre Kompetenzen im Bereich der Philosophie. Wie gesagt: Der Fokus hat sich verschoben. Dass Spezialgebiete in schriftlich ausgearbeiteter Form abgegeben werden, hat sich vom leidenschaftlich diskutierten Ausnahmefall zum Regelwesen gemausert. Dieses Vorgehen hat System: Immerhin legitimiert auch die neue Rechtschreibung alte Fehler als regelkonforme Schreibweisen. Dass auch KollegInnen auch in Philosophie Fehler machen können, will ich aber gar nicht abstreiten. Mir fällt nur auf, dass pädagogische Moden und semantische Hülsen kommen und gehen wie Fukushima und der Djihad, ohne dass sich etwas Grundlegendes an der Machtverteilung zwischen Bürokratie und Intelligenz ändern würde. Ganz im Gegenteil: Der Entwurf zur neuen kompetenzorientierten Reifeprüfung sieht beispielsweise eine Stärkung der Direktoren und eine Aufweichung der Fachkompetenz vor – beide keine zu Optimismus verleitende Neuerungen! Wie das zur Qualitätssteigerung beitragen soll, dass jetzt die Direktionen per Gefühl und Akklamation LehrerInnen in Bezug auf die Betreuung von VWA für fachkompetent erklären, das versteht nur ein Logiker altindischer Prägung wie Nagarjuna. Da mutiert schnell ein Lehrer mit Kopfhörern zum Musikexperten und eine nachdenklich-depressive Kollegin zur Philosophin.

logo: Schon im letzten Gespräch, das wir führten (im Jahr 2002 – Anm der Red.), stiegen die Vorsitzenden nicht gut aus. Der Verdacht, dass sich hier im ARGE-Leiter ein Feindbild verfestigt, scheint nicht unbegründet.

Luft: Naturgemäß sehe ich die Sache anders. Karl Kraus hat mal sinngemäß gemeint: Nichts zu sagen zu haben und das nicht formulieren zu können – das sei Journalismus.  Ich sehe das analog. Natürlich machen auch Kolleginnen und Kollegen aus PuP Fehler, ich kenne einige Beispiele dafür. Das letzte stammt aus dem Jahr 1998.

logo: Im Ernst?

Luft: Wie gut kennen Sie mich? – Also, es gibt ja mehr lustige Geschichten über die Machtverhältnisse bei der Matura. Etwa, dass Vorsitzende und DirektorInnen meinen, man müsse sich während der Matura ausschließlich den MaturantInnen widmen und dürfe sich nicht anderweitig betätigen, korrigieren etwa.

logo: Was soll Ihrer Meinung nach daran falsch sein, dass sich die Prüfungskommission den Prüflingen widmet.

Luft: Daran ist naturgemäß gar nichts falsch. Der Irrtum beginnt schon viel früher: Nicht alle, die im Prüfungsraum versammelt sind, gehören zur Kommission. Warum sollten diese KollegInnen nicht Hausübungshefte oder Ähnliches korrigieren? Immerhin bekommt ein Kollege, eine Kollegin  für einen versessenen Halbtag unter Umständen nur 11,30 Euro brutto (einE KandidatIn) oder gar nichts ausbezahlt, am nächsten Tag läuft der Schulalltag aber ganz normal weiter.

logo: Die Lehrperson könnte den Prüfungsraum ja verlassen und andere Arbeiten erledigen.

Luft: Das ist natürlich korrekt, allerdings weisen Vorsitzende und DirektorInnen immer wieder darauf hin, dass die Prüfungskommission nicht dauernd raus- und wieder reingehen sollte.

logo: Könnten Sie konkret Namen nennen?

Luft: Natürlich!

logo: Und?

Luft: Und was? Konjunktiv II bleibt Konjunktiv II, auch bei der neuen kompetenzorientierten Matura, wie ich hoffe.

logo: Wie sieht der oö.ARGE-Leiter die neue kompetenzorientierte Reifeprüfung?

Luft: Entspannt. Mehr fällt mir dazu nicht ein.

logo: Also…

Luft: Jetzt fällt mir doch noch was ein! Man wird von liebgewonnenen Bräuchen Abschied nehmen müssen bei der neuen mündlichen Matura. Der heute noch übliche Laufsteg beispielsweise, wo sich die Kollegenschaft in Anzug, Krawatte und Abendkleid präsentiert, wird wohl kaum überleben. Wir wissen ja noch nicht, wie sich das entwickeln wird. Aber ich muss ehrlich sagen, dass ich das vermissen werde.

logo: Wie darf man das verstehen?

Luft: Mir gefallen Frauen, auch wenn sie bekleidet sind – oder schön gekleidet. Zu Männern hab ich keine Meinung, solange sie keine kurzen Hosen tragen. Ich weiß, dass man diese Aussage als sexistisch bewerten wird, aber Barack Obama hat ein Kompliment ja immerhin auch überlebt. Da bleibt ein Rest an Hoffnung für einen Philosophie-ARGE-Leiter eines österreichischen Bundeslands.

logo: Die kommissionelle Prüfung werden Sie nicht vermissen?

Luft:
Selbstverständlich werde ich die vermissen! Es gibt ja kaum eine lustvollere Zeit- und Energieverschwendung, als einen Philosophielehrer einen Nachmittag lang zu einem Fünfkämpfer zu setzen, um beispielsweise einer Prüfung aus DG und einer aus Spanisch zu lauschen, zwei Fächern, von denen jetzt mal angenommen wird, dass er keinen blassen Schimmer davon hat. Dieser falsche Einsatz von Ressourcen ist derartig phänomenal, dass ich ihn sicher vermissen werde. Diese Metapher für Sinnlosigkeit ist bisher unerreicht. Oder die Neigung mancher KollegInnen, KandidatInnen die Fragen zu verraten oder den Stoff grandios einzuschränken: Das wird die neue Matura gründlich unmöglich machen. Mein Mitleid für diese schleimigen Würmer hält sich in Grenzen. Dass man für dieses Ziel allerdings einen derart krummen Umweg nehmen musste – Themenpools in irrwitziger Anzahl erstellen, von der Fachkonferenz absegnen lassen, genau zwei Fragen pro Bereich stellen -, ist nach wie vor unverständlich. Die Doppelung in einen verpflichtend zu unterrichtenden Lehrplan und einen verpflichtend zu prüfenden Themenpool ist geradezu grotesk.  Österreichisch.

logo: Wenn wir das richtig hören, dann ist die Aussöhnung mit der neuen Matura höchstens oberflächlich gelungen.

Luft: Nein, soviel ich sehen kann, begrüßen die PhilosophInnen die Tatsache, dass das Schummeln für LehrerInnen schwieriger werden wird. Wir werden wohl kaum mehr erleben, dass LehrerInnen, die keinen Unterricht machen, bei der mündlichen Matura plötzlich Wunderkinder ihres Faches aus dem Hut zaubern und mit gefakten Prüfungen brillieren. Das gabs in der Philosophie aber eh nie!

logo: Das glauben Sie aber selbst nicht!

Luft: Richtig: Glauben ist nicht meine Stärke.

logo: Wird die neue mündliche Matura die Schule verändern?

Luft: Ganz entscheidend. Zum einen ist die Zahl der zu erarbeitenden Fragen dermaßen hoch, dass die Prüfungsorientierung in den Fächern jedes Verweilen abtöten wird. Anders kann man das nicht sagen. Wenn ich heute zu wenig Fragen habe für die Matura oder wenn ich eine zusätzliche Frage formulieren möchte, dann kann ich relativ leicht aus zwei Fragen zur Einführung in die Philosophie drei machen. Das wird in Zukunft nicht möglich sein, weil ja jeder Themenbereich nur genau zwei Fragen zulässt. Das ist blödsinnig und kleinkariert. Zumanderen wird das Hinschielen auf die zu erarbeitenden Fragen den Unterricht radikal beschneiden. Ich kenne jetzt schon KollegInnen, die zuerst die Fragen formulieren und dann den Unterricht drum herum basteln.
Ängstliche KollegInnen werden die Fragenkataloge weniger ängstlicher KollegInnen übernehmen und die Zentralisierung wird sozusagen dezentral von den kleinsten Rädchen im Getriebe selbst vorgenommen. Das ist das humane Antlitz der Postmoderne: Selbsttätigkeit. Überhaupt fasziniert mich der Eifer, mit der KollegInnen an der Beschneidung ihrer Rechte, die ihnen das Ministerium inzwischen zugestanden hat, mitwirken. Er, also dieser Eifer, ist nicht nur Ausdruck individueller charakterlicher Dispositionen, sondern Ergebnis jahrelanger voreiliger Panikmache von oben, die einen Druck auf die Kollegenschaft in Richtung Konformität und Normierung erzeugte, der realiter nie vorhanden war. Mit welch hamsterhaftem Eifer jetzt F-R-E-I-W-I-L-L-I-G (buchstabiert das Wort – Anm. der Redaktion) standardisiert und normiert wird, das bringt mich wirklich zum Lachen. Und zum Weinen.
Denn letztlich muss man den ganzen Prozess doch unter dem Aspekt der Ökonomisierung des Alltagslebens betrachten: Man muss ja nicht Michael Sandel sein, um zu sehen, dass dieser Logik Grenzen gesetzt sind. Um den Arbeitsaufwand zu minimieren, kann man sehr wohl dieselben Fragestellungen an einem Schulstandort entwickeln, das ist klar. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, wie blind und taub man sein muss, um zu glauben, dass dies irgendwas mit Qualitätssteigerung zu tun haben könnte.

Und die Schulbücher. Die werden groteskerweise wichtiger werden denn je: Denn kaum eine Lehrkraft wird den Stoff durchpeitschen können, ohne ihn auf Selbsttätigkeit auszulagern. Aber dafür haben wir ja auch schon einen Euphemismus: Lesekompetenz. Oder, wenns ökologisch sinnvoll, also ohne Einsatz von Papier, und mit Unterstützung des Internets sein soll: e-learning.

logo: Herzlichen Dank für das Gespräch!

Luft: Ich danke!